Fleischer meines Vertrauens

Der Fleischer meines Vertrauens oder was passiert 2003

Ich besuchte meine Mutter, die unweit von Münster in einem Dorf lebt. In diesem Dorf und auch in Münster bin ich groß geworden bevor ich vor mehr als fünfzehn Jahren mein erstes Auto, einen R4 vollpackte und nach Hamburg zog. Nun verhielt es sich so, das meine Mutter mich zum Einkaufen schickte. Wie immer, als sei ich immer noch fünfzehn schrieb sie eine Liste und erklärte mir detailliert, welche Produkte ich wo zu kaufen hatte und wie diese aussahen. Bewaffnet mit einem Beutel, etwas Geld und dieser Liste, die mich wieder in die Pubertät zurück schleuderte begab ich mich auf den kurzen Fußweg ins Dorf. Obwohl meine Mutter am direkten Rande des Ortskerns wohnt heißt es immer noch, das man ins Dorf geht obwohl man ja eigentlich so ziemlich mittendrin lebt. Wie auch immer: Ganz in hanseatischer Manier schlenderte ich los, neugierig in der Erwartung, ob und was sich hier seit meinem letzten Besuch verändert hat.

Erst zum Lidl also, einem Supermarkt in dem man zu spottbilligen Preisen die essentiellen Dinge für einen wohldurchdachten Haushalt erstehen kann. Die beiden rechtsauslegenden Skinheads, die ich auf der Suche nach den Dingen auf meiner Einkaufsliste abwesend und gedankenverloren musterte gaben mir einen schalen Geschmack auf die neuartigen Bevölkerungsschichten. Ein weiterer Besuch im Edeka-Markt, immer noch geführt von der Familie Eckmann, für die mein Vater seinerzeit Plakate malte, die mit schwarzen Lettern auf quietschgelbem Papier die neuesten und besten Angebote feilboten verschaffte mir einen kurzen Smalltalk mit Geschäftsführer Hoffmeister. Er begrüßte mich wie früher mit einem “Na, alles fit?”. Ich konterte mit “Auf sicher. Und selber? Alle Eier im Karton?” Als sei ich nie weg gewesen. Früher hieß es, der Hoffmeister sei homosexuell, da im besten Alter immer noch Single. Für uns pubertierende Jugendliche eine aufregende Sensation, die er mit seiner Verlobung und späteren Hochzeit jäh zunichte machte.

Weiter ging es zur Fleischerei Krasenbrink. Die Besitzer Gerd und Adele Krasenbrink waren die Vermieter des Hauses, in dem ich die ersten Jahre aufwuchs. Schon als Kind liebte ich die Besuche mit meiner Mutter in der Fleischerei, da es neben freundlichen Worten immer ein Stück Kinderwurst oder einen Knacker (Wiener Würstchen) auf die Faust gab. Und das auf lau, also gratis. Aber auch an dem Fleischereifachgeschäft Krasenbrink ist die Zeit nicht spurlos vorbei gegangen. Aus der Fleischerei meines Vertrauens, meiner Kindheit war eine Fleischerei mit integriertem Bistro geworden und an Stehtischen konnte man neben diversen Getränken die köstlichen Fleischwaren auch direkt geniessen. Etwas konsterniert gab ich einer jungen adretten Verkäuferin meine Bestellung auf, erhielt meine Ware und zahlte. Ich war ganz in Erinnerungen versunken, denn in dem Keller des Hauses, das die Krasenbrinks damals an meine Eltern vermietet hatten, lagerten sie einen Teil des Fleischereimobiliars, das wir als Kinder natürlich herrlich und uneingeschränkt in unsere Spiele miteinbezogen. Die Klinke schon in der Hand hörte ich hinter mir eine Stimme: “Marcus?” Ich drehte mich um und sah in das Gesicht von Gerd Krasenbrink. Er war alt geworden und die früher dünnen Brillengläser waren Glasbausteinen gewichen. Das Haar grau und licht. Dennoch eine stattlich anmutende Person, groß und kräftig. Ebenso sein Händerdruck und die freundliche, spontane Umarmung, die er mir angedachte. “Mensch, wie geht es dir? Wir haben uns ja Ewigkeiten nicht gesehen. Groß und erwachsen bist du geworden. Hast du etwas Zeit? Erzähl doch mal wie es dir die letzten Jahre ergangen ist.” An seinem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, das die Nachfrage nicht höflicher sondern ehrlicher Herkunft schien. Was soll””s, dachte ich mir. Du bist so selten hier. Nimm dir die Zeit für eine freundliche Unterhaltung. “Gern, Herr Krasenbrink. Wollen wir uns an einen der Tische stellen? Ich habe schon gesehen, ihr Laden hat sich sehr verändert.” Als hätte ich ein Stichwort gegeben polterte er los während wir uns an einen der freien Stehtische begaben. “Jaja, die Zeiten sind hart geworden und man muß mit der Konkurrenz, die immer größer wird gleichziehen. Selbst in unserem kleinen Dorf ist es schwer geworden, ein einträgliches Geschäft zu machen.” Höflich lauschte ich den Ausführungen über die Entwicklung des regionalen Fleisch- und Verbrauchermarktes sowie der sich ständig verändernden Ansprüche an die damit verknüpfte Dienstleistung. “Jaja, wem sagen sie das?” seufzte ich, Wirtschaftswaise der New Economy und seit neuestem selbständig. “Ja, Mensch, erzähl doch. Was hast du die Jahre über getrieben?” fragte er neugierigen Blickes und zauberte aus einer seiner Kitteltaschen zwei Flachmänner hervor. “Trinkst du einen mit? Aber erzähl deiner Mutter nicht, das du sie von mir hast.” Bei einem Küstennebel konnte ich schwer nein sagen und gefrühstückt hatte ich auch schon. Und ich erwiderte lachend, das ich mit mittlerweile sechsunddreißig schon entscheiden dürfte, was, wieviel und wann ich trinke.

Die Fläschchen klirrten und ich gab eine Zusammenfassung der letzten fünfzehn, sechzehn Jahre zum Besten. Natürlich in der Dorfversion, denn Exzesse in Bezug auf Drogen oder anderen vergnüglichen Dingen gehörten hier nicht hin. Ich selber hatte zwar keinen Ruf zu wahren, mußte aber das Ansehen meiner in der Region verbliebenen Familie schonen. Wieder zauberte er zwei Flachmänner aus der Kitteltasche, wir stießen an und er fragte “Und, hast du noch was mit Fußball am Hut?” Mich traf die Frage wie ein Schlag ins Gesicht. Für ihn war sie normal. War ich doch der einzige der damaligen Fußballjugend, der von Preußen Münster “eingekauft” wurde und – wie mein Vater immer stolz im Kegelverein oder bei anderweitigen Frühschoppen erzählte – Angebote von Profivereinen erhalten hatte. Gerd sah mir ins Gesicht, kombinierte und schlussfolgerte “Du bist St. Pauli Fan, richtig?” “Woran sehen sie das?” “An deinem Gesichtsausdruck. Nur jemand, der so wie du immer mit Leib und Seele Fußballer war, in Hamburg lebt und bei so einer Frage ein solches Gesicht macht kann St. Pauli Fan sein. Wie lange geht das denn schon?” “Seit mehr als zehn Jahren” erwiderte ich und erzählte ihm mit Kloß im Hals wie ich zum FC kam, klärte ihn auch über die aktuelle Lage in Hinblick auf die sportliche Situation und die Lage im Verein als solchen auf. Ich ließ nichts aus: Weder die ganzen vergangenen und aktuellen Schmutzgeschichten, die Trainerwechsel noch die letzte und die aktuelle Saison. Es war als säße ich bei meinem Therapeuten. Der aber weilt in St. Moritz und ich war in der Nähe von Münster in dem Fleischereifachgeschäft meiner Kindheit, bekam auf lau statt Kinderwurst oder Knacker Küstennebel. Wieder stellte Gerd zwei Fläschchen auf den Tisch, wir stießen an und er fragte, was denn die Rückrunde hergeben könne, um den Klassenerhalt noch zu schaffen. “Hm, schwer zu sagen.” erwiderte ich. “Gegen Braunschweig müsste ein Auswärtssieg, gegen Lübeck, Burghausen und Mannheim ein Heimsieg zu machen sein. Köln und Oberhausen auswärts zu besiegen erscheint mir unmöglich. Frankfurt zuhause und Freiburg auswärts ebenso. Ahlen, Mainz und Karlsruhe auswärts könnten unter extremster Anstrengung Licht in unser Schattendasein bringen. Der Rest an Begegnungen ist schwer einzuschätzen. Vielleich hat die eine oder andere Mannschaft wie Trier, Aachen oder Reutlingen in der Rückrunde einen Hänger, den wir uns zunutze machen könnten. Aber das weiß nur der liebe Fußballgott allein. Und der wohnt schon lange nicht mehr auf St. Pauli. Wohl zu teuer geworden jetzt mit dem Euro, schätze ich.” “Nach einer kurzen aber umso heftigeren Abhandlung über den Euro und unseren Kanzler Gerhard “Schnitzel” Schröder fragte Gerd nach einer möglichen sportlichen Verbesserung der Mannschaft durch Neueinkäufe. “Naja, 400.000 ? können wir noch locker machen. Aber zu diesem Zeitpunkt Spieler zu finden, die sowohl kurz- als auch mittelfristig Besserung bringen können sind schwer zu finden. Und wer von dieser Kategorie geht das Risiko ein, zu einem Verein zu wechseln, der mit anderthalb Beinen in der dritten Liga steht? So blöde ist doch wohl keiner.”

Wieder entnahm er seinem Kittel zwei Fläschchen und ich fragte mich ob es einer dieser niemals verendenden wollenden Quellen sein mochte die man eigentlich nur aus schwedischen Kinderfilmen kennt. Nach schnellem Köpfen der Flachmänner erzählte ich weiter. “Ein Abstieg in die dritte Liga mag oberflächlich betrachtet nicht so schlimm sein. Mit dem Etat wären wir in der Regionalliga weit vorn. Aber es gibt genug Beispiele von Vereinen, die den schnellen Aufstieg in die zweite Liga nicht geschafft haben. Außerdem würde auch Geld wegfallen aufgrund von nicht mehr gültigen Sponsorenverträgen, wegfallenden TV Geldern und auch die meisten der Spielerverträge gelten nicht für die Dritte. Immerhin könnten wir noch mit einem Zuschauerschnitt von ca. sechs- bis achttausend Leuten rechnen. Und der Verkauf von Fanartikeln läuft ja auch ganz gut. Aber hinzu kommt, das unsere Amateure vor dem Aufstieg in die Dritte stehen. Ein Abstieg der ersten Mannschaft also würde bedeuten, das die Amateure nicht aufsteigen können und man aus einer Leiche und einem Frischling ein Regionanlliga-Frankenstein schaffen müsste, der die Gegner nur so vom Platz fegt. Das bedeutet aber wiederum einen kompletten Neuanfang. Und bei den Querelen im Verein an sich sehe ich das als absolut unmöglich. Denn für einen sportlichen Neuanfang müsste auch der Verein bereit sein, sich von vielen Altlasten und begangenen Sünden frei zu machen um einen echten, wahrhaftigen Neuanfang zu wagen. Und dafür sind die zu feige. Herr Hoffmeister würde sagen, die haben nicht alle Eier im Karton!” “Ach, den hast du auch schon getroffen?” schüttete sich Gerd aus vor Lachen bevor er wieder zwei Fläschchen auf den Tisch stelle. “Darf ich?” fragte ich mit einem Fingerzeig auf meine Zigaretten. Er nickte und ich fingerte eine Camel ohne aus der Packung, zündete sie mir an und inhalierte tief. “Natürlich habe ich wie viele andere die Hoffnung, das der Klassenerhalt geschafft wird. Aber wenn wir absteigen sollten, dann wünsche ich mir einen kompletten Neuanfang. Sowohl in der Geschäfsstelle als auch in der Mannschaft. Was die Geschäftsstelle betrifft, so hoffe ich, das bis zum Saisonende spätestens all die Vorfälle aufgeklärt sind und daraus entsprechende vernünftige und richtige Konsequenzen gezogen werden. Gerade dort muß aufgeräumt werden, damit nicht mehr Lobby gegen Lobby kämpft sondern alle für das sportliche und wirtschaftliche Wohl des Vereins arbeiten. Dieses ganze undurchsichtige Geklüngel und Geschiebe muß ein Ende haben. Und auf dem Platz muß den Rest der Saison gekämpft werden. Bis zum Umfallen, bis zum Erbrechen. Das mach ich ja auch jeden Tag im Job oder in dem Verein, in dem ich immer noch Fußball spiele!” “In diesem Sinne: Prost”, sagte Gerd und wir leerten die Fläschchen auf einen Zug.

“Und sonst so?” fragte er. “Muß ja”, erwiderte ich und fischte mein Handy aus der Manteltasche, dessen Läuten die Unterhaltung jäh unterbrach. Es war meine Mutter. “Wo bleibst du denn?” fragte sie empört. “Wir wollen doch noch zu deiner Schwester!” “Ich komme gleich. Habe den Herrn Krasenbrink getroffen und mich fest gequatscht.” Gerd warf eine letzte Runde Küstennebel auf den Tisch und zeigte Verständnis. “Junge, wenn Muttern ruft hat man zu folgen. Sonst gibt””s Ärger.” “Ich weiß” erwiderte ich lachend und leerte den Küstennebel. Der Nebel wich aus der Flasche in meinem Kopf und ich mußte konsterniert feststellen, das ich einen sitzen hatte. “Na, einen Knacker mit auf den Weg?” fragte Gerd und hatte schon einen in Plastikfolie eingewickelt. Gerührt nahm ich den Knacker, meine Einkäufe und verabschiedete mich aufs Herzlichste. “Marcus, ich werde jetzt die Nachrichten über St. Pauli etwas genauer verfolgen. Und wenn du mal wieder hier bist, komm gern vorbei. Küstennebel und Knacker habe ich immer zur Hand. Übrigens, die Sehnen und das Fett trennt man am besten mit einem neuen, sehr scharfen Messer vom Fleisch. Nur so bekommt man wirklich gute Ware. Wenn du verstehst, was ich meine.” So verabschiedeten wir uns und ich machte mich in nicht mehr allzu hanseatischer, eher schwankender Manier auf den Weg zu Muttern.

Vielleicht sollte ich die vierzehntägige Therapie gegen einen monatlichen Besuch bei dem Fleischer meines Vertrauens wechseln. Denn schon lange nicht mehr hatte ich mich so gut gefühlt.