Irritiert

Braunschweig oder der Abend der Irritationen

Das erste Heimspiel als offizieller Fanclub des FC St. Pauli und die Aktion Süd steht in der Nordkurve. Das muss man sich mal vorstellen. Aufgrund eines Deals mit den Braunschweigern wurde die Süd in die Nordkurve gestellt. Wie muss man sich so einen Deal eigentlich vorstellen? Spätnachts im Freihafen zwei Männer in langen, dunklen Mänteln. Der Eine lüftet seinen Mantel und zischelt leis “Hey, willst Du eine Südkurve im Millerntor-Stadion? Wohl kaum. Aber in meinen dunkelsten Träumen lief es genauso ab.

Süd in der Nord

Süd in der Nord

Wir hatten uns also mit unserem Schicksal abgefunden und ergaben uns rechtzeitig ins Stadion. Verkehrte Welt. Premiere ins unseren Reihen feierten Frau T., St. Pauli Boy und sein Freund Mr. “Ich kann sie alle haben” und ein Herr, dessen Name mir entfallen ist. Premiere feierten ebenso die von den Boys In Black in liebevoller Heimarbeit angefertigten Doppelhalter Stücker Acht. Zusammen ergeben sie Südkurve. Achim stellte erstmals einen Schnauzbart zur Schau. Auch Aes und sein Sohnemann standen das erste Mal mit uns zusammen. All daserfreute, irritierte mich aber auch gleichzeitig. Denn sollte es die Premiere eines Heimsiegs werden, welches Premiereneinzelteil hatte die Aura des Maskottchens, des Glückbringers? Mir wurde komisch ob all dieser Neuerungen. Und hinzukam, dass der Modefan und Frau Gemahlin fehlten. Modefan musste aufgrund der Flugeinschränkungen in der Schweiz verweilen. Was für ein Schicksal. Aber was erwartete uns an diesem Abend?

Nun, erstaunlicherweise ist die gastronomische Betreuung in der Nord besser als ihr Ruf und das beruhigte mich. Ja, auch ich gehöre zu den Menschen, die im Stadion gern geistige Getränke und andere Dinge wie z.B. Zigaretten genießen. Dennoch vermag ich mich am Singen und Klatschen zu beteiligen. Multitasking, eines der guten Dinge der New Economy.

Unsere Position in der Nord ward schnell eingenommen und wir beschlossen, die Doppelhalter als stillen Protest falschrum zu halten, so das man EVRUKDÜS las, was zu einigen Irritationen unter den Umstehenden führte. Auch eine Schwenkfahne war zur Hand. Also ein kurzer Check: War alles Notwendige zur Hand? Bier, Zigaretten, Doppelhalter, Schwenkfahne, Fahnen, alle anwesend? Einmal durchzählen und es konnte losgehen.

Über das Spiel selber kann ich gar nicht soviel sagen. Nur: es irritierte mich. Denn wir lagen vorn, kassierten zwar einen Gegentreffer und die Abwehr, insbesondere Herr Henzler kosteten mich Nerven. Aber irgendwie wurde mir bald klar, das wir dieses Spiel heute nicht verlieren würden. Torjubel um Torjubel, wir lagen uns in den Armen, sangen und tanzten, schwenkten fröhlich unsere wohlsortierten Fanutensilien. Was für ein Abend! Eine weitere Irritation ließ nicht lange auf sich warten: Zu Beginn der zweiten Halbzeit entrollte sich ein Transparent in der Gegengerade, das besagte, das “Mannheim, Magdeburg, Braunschweig – Achse des Blöden” sei. Noch bevor meine Synapsen die Zusammenhänge zusammenhängen konnten, pöbelte es aus den Lautsprechern. Es wurde von einer Entschuldigung bei den Braunschweigern, Unterschieden zwischen St. Paulianern und nicht St. Paulianern sowie anderes Zeugs gefaselt, was mich total irritierte. Das muss man sich mal vorstellen. Da wird man vom eigenen Stadionsprechern ausgeschlossen aus der heiligen Gemeinde der Fans weil man etwas ironisch auf den Punkt bringt, was eigentlich allseits bekannt sein sollte. Aber das ist eine andere Geschichte und jeder sollte wissen, dass auch diese Irritation sich später erledigen ließ.

In der zweiten Halbzeit spielte sich unsere Mannschaft in einen Rausch (Ergo: Kiffen im Stadion ist auch für die Mannschaft gut!) und ich war total außer mir. Bierdusche um Bierdusche konnte mir nichts mehr anhaben. Was außerhalb des Stadions in einem anderen Leben geschah wurde zur Nichtigkeit an diesem Abend, denn ich war unter Gleichgesinnten, unter guten Freunden und Bekannten im Stadion und die Mannschaft erzielte Tor um Tor. Was kann schöner sein als das? Sex? Das letzte Mal, das ich es sieben Mal an einem Abend geschafft habe, ist schon länger her. Also konnte auch dieser Vergleich nicht ins Spiel gebracht werden. All das irritierte mich, brachte mich durcheinander. Denn würde es so weitergehen? Was kommt nach so einem nicht enden wollenden Höhepunkt? Ein langsamer angenehmer Rutsch in warme angenehme Gewässer oder ein kurzer schneller Fall in die Realität des grauen Alltags?

Das Spiel war aus. Nur der Freudentaumel hielt an. Superfly erklomm den Zaun, ließ die Schwenkfahne einen Tanz aufführen und ich fiel Henry in die Arme, einem Mannschaftskollegen, den ich erst jetzt in der leer werdenden Nordkurve entdeckte. Mein Gott, was für eine Freude. Immer noch aufgeregt machten wir uns auf den Weg ins Jolly und Superfly ließ die Fahne ausgepackt und stolz markierten wir damit unseren Weg. Am Jolly angekommen, Bier geordert lief Fly unter großem Hallo die Budapester Straße hoch und runter, was zu Irritationen bei zwei Streifenpolizisten führte: “Du, da läuft einer mit ””””ner Riesenfahne über die Strasse. Unglaublich!” Nach diversen Getränken, lauten Gesängen und erregten Spieldiskussionen begaben wir uns in den Beat Club, um dort die Arschrocker zu treffen. Über den Rest dieses Abends lasse ich den Mantel der Verschwiegenheit. Nur soviel: ich hätte es der Mannschaft beinah gleichgetan mit den sieben Dingern und sie einem Tor reingetan, der es nicht besser wusste als so. Und Superfly verschüttete Gin Tonic in der Kammer der Frau T…

Blieb die frage offen, welches Einzelteil dieser aber aus gelungener Premiere nun der Glücksbringer für das nächste Spiel war? Achims Schnauzbart fiel weg. Der war ein paar Tage später nämlich ab. Was für eine Irritation…