Therapeutenurlaub

Die Hinrunde oder warum macht mein Therapeut gerade jetzt Urlaub?

Das Jahr neigt sich dem Ende zu, die Einkaufspassagen überladen sich mit konsumwilligen Menschen, kleine Kinder kotzen die Süßigkeiten, die eigentlich sedierend wirken sollten auf die Jacken anderer Menschen. Auf Weihnachtsmärkten schwanken menschenähnliche Glühweintanks, auf Weihnachtsfeiern wird wieder gefressen, gesoffen und gegraptscht. Same procedure as every year sagt der Engländer und reicht einen Gin Tonic. Silvester steht ebenso wie das heilige Fest kurz bevor und der moderne Mensch fragt sich, was man dieses Jahr gegen den Silvesterfrust- oder partywahn zu tun gedenkt.

Mein Therapeut hat es richtig gemacht und ist vor kurzem nach St. Moritz ausgebüchst, um dort Wintersport zu treiben. Skipisten, Skihasen, Apres Ski und DJ Ötzi. Das ist besser als nichts wenn das Ambiente und die anwesende Klientel stimmt. Er wird schon wissen, was er tut. Er ist immerhin mein Therapeut…

Aber wissen andere, was sie tun? Wenn man auf die Hinrunde unseres geliebten FC zurück blickt, kann man diese Frage nur mit einem klaren Nein beantworten. Wo stehen wir? Es bleiben der 18. Tabellenplatz, neun lausige Punkte, ein Torverhältnis von 23:42. Macht summasummarum zwei Siege, drei Unentschieden und zwölf Niederlagen, zwei entlassene Trainer und diverse aussortierte Spieler. Wer von uns hätte das gedacht? Trotz der schweren Anfängen dachten doch alle, das mit dem 7:1 gegen Braunschweig die Wende zum Positiven eingeläutet wurde. Auch das 5:2 gegen Mannheim liess nochmal hoffen.Wir aber haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht, den Tag vor dem Abend gelobt und was man sonst noch so an Sprichwörtern strapazieren könnte. All das reicht nicht aus, um zu beschreiben wie sehr wir uns alle verschätzt haben. Zusätzlich zu der sportlichen Misere instrumentalisieren diverse hochrangige Vereinsmitglieder auch noch die Hamburger Medien. Oder war es umgekehrt? Eigentlich eine gute Frage? Wer hat hier wen vor seinen Karren gespannt? Sind die Hamburger Zeitungen wirklich so naiv, sich von einzelnen Lobbyisten des FC St. Pauli benutzen zu lassen? Wohl kaum. Sportlich gesehen stehen wir mit einem Bein in der dritten Liga, was die Arbeit und das Verhalten der Vereinsoberen betrifft, sind wir noch nicht mal bezirksligareif. Aber wann waren wir das mal nicht?

Wenn mal man von dem Geschehen auf dem Platz und im Vereinscontainer (Das wäre doch mal was für RTL II) absieht, kann man wenigstens auf den Zuschauerrängen Hoffnung erblicken. Trotz der Unentschieden, der Niederlagen, dem unansehnlichen Gekicke kommen zahlreich Leute ins Stadion. Zugegeben ist es eine Minderheit, die aktiven Support organisiert und damit die Atmosphäre im Stadion hinreichend schön und laut gestaltet. Aber die, die nicht singen sind immerhin da. Selbst die pure Präsenz ist dabei immer noch eine Geste pro St. Pauli. Und nur das zählt. Sehen wir doch mal von negativen Stimmungschwankungen, dummen Texten und volltrunkenen oder zugekifften Gnumpen ab, bleibt immer noch eine recht positive Bilanz zu ziehen. Malt uns Fans und unsere Szene, Stimmung nicht schwärzer als es ist. Oder wie Superfly so schön sagt: Holt Euch Euren Block zurück.”

Ich für meinen Teil bin froh, nach mehr als zehn Jahren passiver Teilnahme am Fußball des FC St. Pauli den Schritt getan zu haben, in einen Fanclub einzutreten. Der Silversurfer, Modefan und ich kennen uns schon seit kleinen Ewigkeiten, der Rest hat sich letzten Endes über das Forum gefunden. Alle sind mir ans Herz gewachsen, einige sind gute Freunde geworden und die Südkurve kann sich mittlerweile sehen lassen was den Support, die Stimmung betrifft. Ich glaube schon, das wir einiges dazu beigetragen haben, das der eine oder die andere hin und wieder schmunzeln konnte. Auch wenn das Geschehen auf dem Platz nicht gerade dazu passte. Mein Gott, was haben sich einige von uns die Finger wundgemalt auf Tapeten und Doppelhaltern, stundenlang an der Nähmaschine verbracht oder in unserem Forum und via Email diskutiert über Aktionen, Tapetentexte usw. Wieviel Bier und Sportzigaretten wohl in der Hinrunde drauf gegangen sind, wieviel Anekdoten erlebt und erzählt wurden. Da waren etliche Stunden vor und nach den Heimspielen, die legendäre Fahrt nach Burghausen, das Debakel in Lübek und einiges mehr an Auswärtsfahrten, die allein schon die Boys In Black auf sich genommen haben. Zugegeben ist die Aktion Süd nicht immer bei Auswärtsspielen vertreten. Aber auch das wird sich noch weiter entwickeln und zum Positiven wenden. Für die Rückrunde ist einiges an Fahrten angedacht. Ist ja immerhin die Abschiedstour aus der zweiten Liga…

Mit dem Eintritt in die Aktion Süd ist aber auch der Schmerz teilweise größer geworden, da intensiver erlebt und gelitten wird. Geteilter Schmerz ist zwar halber Schmerz. Aber die intensivere Teilnahme, das größere Zusammen Erleben macht den Schmerz mitunter größer als er eigentlich sein dürfte, strengt mehr an als es sollte. Ich habe noch nicht mal bei dem letzten Fast-Abstiegsdrama gegen Oberhausen geheult und jetzt gegen Aachen verwässere ich glatt die Currysoße meiner Wurst. Schön ist das nicht. Und schmecken tut es auch komisch…

Was bleibt also: Die Erkenntnis, das die Rückrunde anstrengend und unangenehm spannend wird; das es schön war, ist und sein wird mit all den Menschen, die sich um den FC und auch um mich kümmern; das die Arschrocker die Hinterlist des “Mitkonkurrenten machen wir betrunken” nahezu perfektioniert haben; wir uns trotzdem auf weiteren Praktikanten- und Schüleraustausch zwischen Gegengerade und Südkurve freuen und das zwei Siege und drei Unentschieden noch keinen Nichtabstiegsplatz ausmachen.

Leute, lasst es Euch gutgehen über die Weihnachtstage und kommt gut ins neue Jahr. In der Hoffnung, das damit alles oder zumindest einiges besser wird.

Danke für die Hinrunde (und vieles andere) an: die Aktion Süd, die Arschrockjugend (besonders an das Präsidentenpaar und den Astra Schwaben), Cathrin, Heiko und Ralf (Fanladen), Stefan Graf, Doris, Tanja, Sandra aus London, die Passanten, USP, Netzmeister, Orsen, Rispi, Saschex, Adolf Jäger, Bender, Kim Il Sung, Mosh, Altona 93, Sven Brux, Markus Lotter, Christof Hawerkamp, Eric den Franzosen und an alle, deren Namen ich jetzt vergessen habe und die sich trotzdem angesprochen fühlen können.

Gemeinsam sind wir stark!

Und wenn mein Therapeut wieder da ist, geht es erstmal aufs Sofa. Er hat sich tatsächlich ein neues gekauft. Allein ob es quietscht oder nicht gilt es auszuprobieren. Das wird eine Sitzung sage ich Euch. Der ist gleich wieder urlaubsreif…