Liebe ohne Leiden

Es gibt kein Lieben ohne Leiden – 20.05.2003

Man neigt ja dazu, den Tag nicht vor dem Abend zu loben. Macht man hin und wieder. Soll vorkommen. Aber dann geschieht es, das man merkt, die Rechnung ohne den Wirt gemacht zu haben und das Fell, das man zerteilt gehört einem Bären, den man noch nicht erlegt hat. Und am Ende steht man dann wie ein Ochs vor dem Berg, mit sprichwörtlich leeren Händen guckt man dumm aus der Wäsche. So ist es mir diese Saison des öfteren geschehen: Im Netz schon zappelnd geglaubte Bälle wurden noch über die Latte gedroschen, geschossen geglaubte Tore wurden aberkannt, gewonnen geglaubte Spiele gingen noch verloren. Und am Ende stand ich da: Fassungslos, kaputt, entmutigt, verzweifelt. Aber immer wieder keimte Hoffnung auf: Wir schaffen das. Unser Verein steigt nicht ab. Irgendwie wird das schon wieder. Denn was mir den Glauben gab waren die knapp zwanzigtausend Menschen um mich herum, die mit mir litten, verzweifelten, aber auch glaubten, hofften und vielleicht sogar wie ich hin und wieder beteten. Und in dieser Masse an Menschen standen einige wenige Menschen um mich herum, die ich teilweise zu meinem Freundeskreis und teilweise zu meinem engeren Bekanntenkreis zählen darf. Diese Menschen waren immer da. Wenn auch in ähnlich verzweifelter Lage, so haben wir uns doch gegenseitig gestützt, ermuntert und zum Lachen gebracht. Das hat gut getan, das tut gut und das wird auch weiterhin gut tun. Denn was lange befürchtet wurde, ist nun eingetreten: Der FC St. Pauli spielt in der dritten Liga. Alle anderen Eventualitäten lasse ich bewußt außen vor, da die Hoffnung immer noch zuletzt stirbt. Und etwas, ein kleiner Rest schimmert noch in mir, der mich glauben lässt, das der Verein nicht noch tiefer fällt als letzten Sonntag schon geschehen.

Wenn ich diese Saison an mir vorbeiziehen lasse, dann wird mir ganz schwindelig ob der Höhen und Tiefen wobei letztere in der Mehrheit waren. Nach den Pleiten gegen Frankfurt, Mainz, Lübeck und Ahlen dann endlich der erhoffte Aufschwung gegen Braunschweig, der Rückschlag gegen Berlin und ein erneutes Lebenzeichen in Mannheim. Und so ging es weiter. Mit dem Unterschied, das nach Mannheim nicht mehr viel kam an Lebenszeichen, bzw. Aufbäumen. Hin und wieder ein Unentschieden. Mehr aber noch unbeschreiblich schmerzvolle Niederlagen. Die Rückrunde liess wieder hoffen, tauchte uns in das Klischee des Wechselbads der Gefühle. Und wo stehen wir jetzt? Am Ende. Oder gar am Anfang? Zumindest weiß ich eins: Zur Zeit stehe ich so da, das, wenn ich hoch gucke irgendwo da oben in weiter Ferne ein kleines, sehr sehr kleines Licht erkennbar ist. Mann, ist das tief das Loch…

Sehe ich von dem Sportlichen einmal ab, so erscheinen mir gerade im Umfeld des FC St. Pauli Momente, die unbeschreiblich schön und manchmal ebenso traurig waren: Wir haben zu Anfang dieser Saison die Aktion Süd gegründet und vermochten eine relativ beständige und kreative Gruppe von knapp zwanzig Leuten zusammen zu bringen, die sich gut verstehen und mögen. Das hat im Ansatz positive Auswirkungen auf die Südkurve gehabt, denn meines Erachtens ist es dort schon ein klein wenig lauter und bunter geworden. Was in der kommenden Saison in der Südkurve passiert ist abzuwarten. Jede/r ist willkommen. Bob und ich haben diese kleine Website geschnitzt, die es uns ermöglicht, Euch mit Bildern und Worten zu bewerfen. Ob Ihr ausweicht oder getroffen werdet hängt dabei ganz allein von Euch ab. Die Boys In Black haben etliche Doppelhalter genäht, Tapeten wurden gemalt und endlich haben wir Superflys Schwenkfahnentrauma mit dem Kauf einer eigenen überwunden. Auch mein Therapeut hat ausgedient, kann ich doch hier meine Komplexe in digitaler Form kompensieren.

Bald stiessen wir auf die Arschrocker, die sich im Fanforum so provokativ verhielten, das wir sie selbstverständlich unter den Tisch trinken wollten. Dieses Konkurrenzverhalten im Konsum von Genußmitteln hat zu einer verschworenen Gemeinschaft geführt, die mittlerweile mehr als nur zusammen trinkt. Das ganze eskalierte im positiven Sinne auf der Burghausenfahrt, da bei dieser Gelegenheit die unorganisierten AFCler sich zu uns gesellten und mittlerweile aus diesen drei Fraktionen eine extrem verträgliche und mehr als symphatische Truppe zusammen gewachsen ist. Die inzwischen (in nur einer Saison) erlebten Geschichten füllen ein Buch voller Anekdoten, das erst einmal geschrieben werden muss. (Ich arbeite vielleicht mal dran. Ein Teil ist ja unter den Protokollen schon nachzulesen.) Auf der Burghausenfahrt habe ich auch Rispi kenngelernt, mit der ich mittlerweile seit dem 28.12.2002 glücklich zusammen bin. Und das, ohne mich vorher mit einem gewissen Rennelefanten körperlich messen zu müssen. Traurig auf der Burghausenfahrt war, das ich zwar auf der Rückfahrt in meinen Geburtstag reinfeiern konnte, aber mein Vater in derselben Nacht verstarb. Morgens um vier rief mein Bruder an und ich sitze mitten im bundeseutschen Niemandsland in einem Zug voll Verrückter. Das war aber auch der einzige Trost in diesem beschissenen Moment. So scheint es nicht nur die Saison der verlorenen Punkte, sondern vielmehr auch die Saison der verstorbenen Väter und Mütter zu sein, stehe ich doch mit diesem Ereignis nicht allein da. Allen, denen es ähnlich erging mein ehrliches und tiefstes Mitgefühl.

Die Saison wurde also länger und länger, die Aktivitäten größer und größer und der Bekanntenkreis wuchs in angemessener Relation. Dabei bin ich oft angeeckt und habe Leuten vor den Kopf gestossen. Aber das bedauere ich in keinster Art und Weise, denn das bin ich und ich habe gelernt, mich in meiner Haut wohlzufühlen. Mein Selbstbewußtsein und mein Ego ist groß genug, um meine Meinung zu äußern, wenn ich es für notwendig und richtig erachte. Ebenso wie ich bewußt die Art und Weise wähle, in der ich das tue. Zugegeben bin ich manchmal sehr zynisch, provokant, anmaßend oder auch impulsiv. But that”s me. Love me or leave me. Durch diese meine Art habe ich letzten Endes Leute kennengelernt, die ich sehr schätze. Wenn wir auch nicht immer oder nicht oft einer Meinung sind, so respektiere ich diese Leute zumindest. Manche mag ich sogar. Weil sie in der Lage sind zu differenzieren und mir zugestehen, Fehler zu machen, diese einzugestehen und mir so die Möglichkeit geben, mich weiter zu entwickeln. Denn das ist einer meiner Ansprüche: Umdrehen und zurück blicken, wenn es dem nächsten Schritt nach vorn dient. Aber nicht stehen bleiben sondern nach vorn gehen!

Ich will mich jetzt nicht weiter zu den vereinsinternen Geschichten äußern, mit obskuren Analysen oder ähnlichem aufwarten. Das ist, obwohl ich eine Meinung dazu habe mein Fachgebiet nicht. Die aktuellen Fakten, Zahlen und Konsequenzen sprechen für sich und ein jeder von Euch mag seine Schlüsse daraus ziehen. Abgerechnet wird zum Schluss. Und da sind wir noch nicht. Nur soviel: Herr Littmann, Sie bezeichnen sich als Präsident der Fans. Dann verhalten Sie sich auch so. Ansonsten laufen Sie Gefahr, sich den, verbliebenen Respekt zu verspielen. Und Karlsruhe war da nicht erst der Anfang. Wichtiger aber noch ist, das Sie endlich mit dem anfangen, was Sie angekündigt haben: Ungeachtet von Seilschaften, Kumpaneien und Filz aufzuräumen und neu aufzubauen. Für den Verein, für eine Mannschaft und für mehr als nur die Fans, die Sie bei jedem Spiel sehen können. Hören Sie auf zu glauben, Sie könnten über unsere Leidenschaft, unsere Liebe und unsere Interessen wandeln wie weiland Jesus über den See Genezareth.

Und Ihr? Ja, was ist mit Euch? Hört endlich auf zu glauben, Ihr steht mit Eurer Meinung zurecht auf dem Sockel, den Ihr Euch aus Sand gebaut habt. Damit meine ich all jene, die meinen sie könnten anderen vorschreiben wie sie zu sein haben im Support, in der Meinung, im Verhalten zum Verein und zur Mannschaft. Wer mit Tapeten, Doppelhaltern und Schwenkfahnen hantiert macht das eine. Wer trinkt, feiert und rumgröhlt macht das andere. Und niemand wird durch sein Verhalten besser oder schlechter. Schlecht ist nur derjenige, der den anderen neben sich nicht toleriert, respektiert und ihn sein lässt wie er ist. Die Freiheit, die ich meine ist immer die Freiheit der Andersdenkenden. Mittlerweile eine Floskel, die in Zeiten entstanden ist, in denen anders Denken und Freiheit höchst seltene und auch gefährliche Güter waren. Geht es uns etwa so gut als das wir uns mit Problemen und Konflikten beladen, die so nebensächlich sind wie der Sack Reis, der gerade in China umgefallen ist. Oder wie die Wurst, die letzten Sonntagmorgen auf dem Fischmarkt geknackt hat?

Kümmern wir uns doch lieber darum, das der Fanladen mit seinen Mitarbeitern erhalten bleibt. Das Cathrin, Heiko, Ralf, Marisella sowie zukünftige Praktikumsausüber/Innen weiter in Ruhe ihre Arbeit machen können. Oder kümmern wir uns lieber darum, das kommende Saison sich am Millerntor eine Mannschaft wieder geliebt, beschützt und vor allen Dingen unterstützt fühlt. Kümmern wir uns doch lieber darum, das es wieder gilt: Oh, am Millerntor, da brennt die Luft. Einige haben den Anfang schon gemacht. Lasst uns da gemeinsam anknüpfen. Wir müssen uns nicht blind und blöd miteinander verbrüdern. Aber wir stehen zusammen für den FC St. Pauli. Wir leben ihn, erfüllen Zahlen, Statistiken und Ergebnisse mit Jubel, Trauer, Gesang, Geschrei und Farbe.

Und jetzt kommt Ihr!