Berliner Sicht 02

Berlin oder warum nur, warum?

Mein allererstes Fußballspiel in einem Verein bestritt ich für den VFL Senden von 1893. Ich war zehn und war der zweite Torwart in der D-Jugend. Da unsere Mannschaft durch Krankheit dezimiert war musste ich nun als Feldspieler ran gegen den SV Davensberg, spielte Halblinks vor der Verteidigung. Wir führten zwei zu null und bei einem Angriff der Davensberger stand ich an der Sechzehnmeter-Linie. Der Stürmer zog ab und ich hielt meinen Fuß in die Flugbahn des Balles. Diese veränderte sich durch meinen Fuß nun so, das der Ball statt vermutlich ins Aus zu gehen in den oberen rechten Winkel unseres Tores einschlug. Nur noch zwei zu eins aber niemand machte mir einen Vorwurf.

Minuten später stand ich wieder in unserem Sechzehn-Meter-Raum und erneut griffen die Davensberger an. Ich versuchte, einen Querpass unter meine Kontrolle zu bringen. Alles was ich vermochte war, das runde Ding an meinen rechten Arm zu bugsieren. Der Schiedsrichter pfiff, gab Elfmeter und es stand nur noch zwei zu zwei. Dabei blieb es und heulend, in voller Fußballmontur ging ich nach Hause. Meine Eltern wohnten nur einen Steinwurf vom Platz entfernt. Ein paar Spieler kamen hinter mir her, versuchten mich zu trösten. “Es sei doch nur ein Spiel.”, “Das hätte jedem passieren können” und andere Floskeln provozierten bei mir aber nur einen noch stärkeren Tränenfluss. Zuhause angekommen stürzte ich mich verzweifelt in die Arme meines Vaters, dem allerdings auch nur einfiel zu versichern, das alles doch nur ein Spiel sei und das jedem hätte passieren können. Trotz dem väterlichen Vertrauen und der Ruhe wollte ich das nicht glauben. Mein einziger Trost war die Tatsache, das ich eigentlich nur ein zehnjähriger Junge war, der immer nur Torwart sein wollte und vom Trainer aus Personalnot ins Feld gestellt wurde. Da war das Unheil doch vorprogrammiert. Jahre später – ich war zweiunddreißig – machte ich ein ähnliches Eigentor, als ich bei einer befreundeten Thekenmannschaft im Feld aushalf. Es machte mir wieder niemand Vorwürfe und diesmal musste ich auch nicht heulen. Auch der Weg vom Fußballplatz zum Elternhaus hatte sich verändert, betrug nunmehr ungefähr dreihundertzwanzig Kilometer.

Es ist aber eben nicht nur ein Spiel. Das habe ich im Laufe meines kleinen Lebens noch nie so gesehen und jedes Spiel, das ich verloren habe, jeden Treffer, den ich kassiert habe tat weh und hat eine kleine, kaum sichtbare Narbe auf meiner Seele hinterlassen. Manchmal, wenn ich nicht schlafen kann gehe ich alle Spiele, an die ich mich erinnern kann durch. Andere zählen Schafe, ich erinnere mich an Fußballspiele, gehe Gegentreffer durch und analysiere immer noch meine Versuche, Treffer zu vermeiden. Ich bin jetzt sechsunddreißig. Wann hört das eigentlich mal auf?

Sonntag nun konnten wir endlich mit der ersten Mannschaft des SC Sternschanze einen Heimsieg einfahren, der lange hat auf sich warten lassen. Ist unsere Tabellensituation in der Bezirksliga doch ähnlich bedrohlich wie die des FC St. Pauli in der zweiten Liga. Gegen Union Berlin ging es am Sonnatg für unseren FC. Leider verpasste ich die ersten zwanzig Minuten aufgrund unseres eigenen Heimspiels. Leider? Viel hatte ich anscheinend nicht verpasst, da es Null zu Null stand und eine kurze Analyse der Situation klar machte, das unser Team gegen die Berliner wohl nichts beschicken wollte. Schnell war der Rest der ersten Halbzeit auch vorbei und ich schickte ein Stossgebet zum Himmel, das etwas passieren muss und wir dieses Spiel nicht einfach verlieren dürften. Irgendwer da oben hatte mich gehört, denn ein schönes Freistoßtor von Blank (dennoch haltbar) und ein schneller geschickter Konter mit N”Diaye brachten uns in Führung. Ebenso die Berliner Fans zum Kochen. Die wurden immer lauter, fackelten zwei Knaller ab, die es in sich hatten. Der Sankt Pauli Fan neigt dazu, eine Zwei zu Null Führung in der achtzigsten Minute als Heimsieg zu notieren und wendet sich dem fröhlichen “Niemand siegt am Millerntor” zu. Endlich war es mal laut. Aber allein unsere Mannschaft machte uns einen Strich durch die schon den Berlinern rübergeschobene Rechnung: Innerhalb von Drei Minuten (Drei! Das muss man sich mal vorstellen!) kassierten wir zwei Dinger und es stand Unentschieden. Abpfiff. Schluss. Aus. Frei nach dem Motto: “Ey, ihr habt hier bei uns so toll gespielt. Ein Heimsieg wäre doch nun wirklich ungerecht gewesen. Also schenken wir Euch zwei Tore und einen Punkt. Wir haben davon ja reichlich!” Das ist Regional-Liga-Niveau und genau da werden wir uns nächste Saison wiederfinden. Ich bin zwar als Baby mit Optimismus gewickelt und gepudert worden. Aber irgendwann ist es auch damit vorbei. Wer so eine Führung aus der Hand gibt, der hat es einfach nicht geblickt. Würde mein Vater mir heute sagen “Es ist doch nur ein Spiel.”, würde ich erwidern “Es gibt Spiele, die sind nur Spiele. Aber es gibt Spiele, die sind Existenzkampf. Für Mannschaft, Verein, Stadtteil und Fans. Das heute war so eins. Und wir haben es hergegeben.”.

Das Spiel an sich hatte auch unabhängig vom Tabellenplatz schon im Vorfeld wieder eine andere Brisanz gewonnen: Die Südkurve war komplett in Gästehand, in den Kurven und der Gegengerade wurde von Polizeiseite der Ausschank von alkoholischen Getränken verboten. Die etwas kuriose Tatsache, das auf der Haupttribüne Alkohol weiterhin erlaubt war, führte zu erregten Diskussion im Fanforum und zu der cleveren Berliner Idee, den eigenen Fans in der Südkurve von der Haupttribüne aus “echtes” Bier durchzureichen. Das die Südkurve komplett den Berlinern gehörte machte uns Südkurvlern nicht mehr viel aus. Aber das die Berliner mehr noch als die Lübecker die Kurve tatsächlich ausfüllten war beängstigend und der Supportpunkt ging bei dieser Partie ganz klar an die Berliner.

Bleibt die Frage, ob der eigene Support so schwach war da nicht alkoholgeschwängert? Das stelle ich ganz klar in Frage. Aber mittlerweile ist mir diese ganze Diskussion über Alkohol zuwider und das Auftreten von so manch einem, der sich aufgrund des eigenen Gebahrens Urteile über andere erlaubt und sich zum Elitefan erhebt widert mich an. Die eigene Leistung ständig als Maßstab auf andere anzulegen, sich selbst damit auf einen Sockel zu hieven, der fragwürdig ist hat für mich nicht unbedingt viel mit “United we stand” zu tun und erscheint mir auch als Widerspruch in sich. Wenn ich in Braunschweig in einen Bus steige und ein neun- oder zehnjähriger mit USP Inkamütze (den ich persönlich kenne, da er im selben Verein kickt) den einsteigenden Fans fast den Zutritt mit der Begründung verwehrt, das sei hier der Ultra” Bus so kann ich zwar darüber amüsiert schmunzeln, muss mich aber im Endeffekt fragen, ob hier nicht jemand anfängt eben jene Elitefans “hochzuzüchten” und Kinder in eine Ecke drängt, die sie in acht, neun oder fünfzehn Jahren zu dem werden lässt, was jetzt kritisiert wird: Eine einsame Gegengerade, die sich mit “Früher” und “Damals” immer wieder den nach Mottenkugeln riechenden Hauch von Leben einatmet.

Versteht mich bitte nicht falsch. Ich symphatisiere ganz klar mit “Ultrá Sankt Pauli” und auch den “Passanten”, finde den Ansatz, zwischen USP und den Passanten Einigkeit und gemeinsamen Support zu erzielen für richtig und gut. Aber die Richtung, die solche Bewegungen annehmen, indem andere verurteilt und als Säufer, Nichtsupporter, Modefans oder Greise hingestellt werden weil sie eine andere Beziehung zum Spiel, zum Verein und zum Support haben halte ich für falsch und ignorant. Wer Respekt einfordert muß Respekt entgegenbringen. Auch wenn es manchmal ob ablehnender Haltung und der damit einhergehenden Pöbelei der anderen schwer fällt. Denn die Freiheit, die wir leben sollten ist immer die Freiheit der Andersdenkenden. Was wir für uns fordern ist immer etwas, das wir zu geben bereit sein müssen.

Es ist mehr als nur ein Spiel. Aber macht keine Kastengesellschaft daraus. Wir alle sind “Sankt Pauli”! Und wenn ich mir so wie gestern den Übersteiger und die Gazetta D”Ultrá neun, zehn und elf durchlese habe ich dasGefühl, ihr seht das anders…

Euer ewiger Nörgler