Theoretische Praxis

Braunschweig auswärts oder die Theorie in der Praxis

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Die letzte Exkursion unserer Klasse lag einige Zeit zurück. Neben einem ersten Exkurs nach Lübeck in eine Marzi-pankugelrollerei und einem extrem aufwendigen nach Burghausen zur Besichtigung von Folterinstrumentarien und Blasinstrumenten wurde auf einer Versammlung die Exkursion nach Braunschweig vereinbart, um dort die hiesigen Verkehrs- und Sicherheitsstrukturen zu untersuchen. Als praktisches Exempel diente uns das Auswärtsspiel des FC Sankt Pauli von 1910 bei der Braunschweiger Eintracht mit dem thematischen Schwerpunkt, wie Fußballfans vom hiesigen Bahnhof zum Stadion und zurück gebracht werden. So luden wir auch Kameraden der Parallelklassen ein, mieteten uns in den Sonderzug des Fanladens ein und machten uns auf den Weg. In Harburg endlich hatten wir all unsere Schäfchen zusammen. In Reihe aufgestellt und durchgezählt: Boys In Black (for him), Boys In Black (for her), Superfly, Moritz, Matthias, Bob_Der_Ball, Kipper (Austauschschüler aus London, British Army Intelligence Service), Rainer, Hartmut mit weiteren vier Internatszöglingen und meine Wenigkeit.

Wir nutzten gleich den Einstieg, um Lektion Eins unserer Exkursion auszuprobieren: Trotz Reservierung für Wagen 2 stiegen wir einfach in Wagen 3 ein und machten es uns dort gar gemütlich. Die Ordner konnten wir trotz kurzfristiger Belehrung und leichtem Widerstand beruhigen. Merke also: gute Rhetorik und gepflegtes Auftreten sind der erste Hebel, um Maßnahmen und Vorkehrungen von Sicherheitsorganen auszuhebeln.

Kaum war die Fahrt im Gange – wir hatten wir unser Reiseequipment nochmal sorgfältig sortiert – wurden auch die ersten, von Muttern gepackten Verpflegungspäckchen aufgerissen und die Klasse stopfte fröhlich und heiter die Lek-kerbissen in sich hinein. Superfly war so fürsorglich und hatte für die Klasse ein Kistchen Astra organisiert. Die Aufsichtsperson drückte ob dieser netten Geste ein Auge zu und liess sich mit dem einen oder anderen Fläschchen gern bestechen. Bald trat aber ein erstes kleines Problem auf: Für die fröhliche Reisegruppe waren zuwenig Toiletten vorhanden und schnell versperrten ewig lange Warteschlangen die Wege. Dies war der perfekte Einstieg für mein Referat, das ich vorbereitet hatte und ich erläuterte die Theorie, das – neben dem Frieren – das Urinieren und dessen Kontrolle eine Frage der Psyche sei. Genau wie die Körpertemperatur könne die Blase über die Kraft des Geistes gesteuert und kontrolliert werden. Boys in Black (for him) wollte mir keinen Glauben schenken, auch Superfly nahm Abstand von meiner Theorie und gesellte sich zügig zu den Toilettenstehern, um einer eventuell schnell zu ent-leerenden Blase Vorschub zu leisten. So ereiferte ich mich weiterhin, leerte ein Getränk nach dem nächsten und spürte bald, das auch meine Blase dieser Theorie nicht paktische Folge leisten wollte. Ich besann mich auf das Wesentliche und beruhigte meine Blase durch gutes Zureden und Gesichtsmuskelmeditation. Die Fragen ob es mir gut gehen würde weil ich so schmerzverzerrt gucke ignorierte ich geflissentlich und bald erlangte ich absolute Kon-trolle über meinen Harndrang, hielt ein Pläuschchen mit Kipper über Unterschiede der englischen und deutschen Haltung zum Irak und den USA. Kurz darauf stand ich zwischen den Wartenden und bat die Menge verzweifelt doch etwas schneller zu machen. Mein Gott, was musste ich dringend pinkeln. Ein paar Minuten vor der Ankunft in Braun-schweig hatte auch ich dann endlich die Toilette aufsuchen können und so von Pein befreit liess es sich entspannt Braunschweiger Boden betreten.

Hier nun wurde Lektion Zwei der Exkursion Thema: Wie ist es um die örtliche Verkehrs- und Sicherheitsstruktur bestellt, die einen reibunglosen Verkehr vom Bahnhof zur Eventlocation und den puren Genuß eines Fußballspiels gewährleisten sollte?

Die hiesigen Sicherheitsorgane waren bestens gerüstet. Allein der Sinn ihrer Rüstung gab uns zu denken, da er rein dem Eigenschutz diente und in keinster Weise darauf hindeutete, das einer der Sicherheitsbeamten daran denken könnte, sich für uns einzusetzen. Diese imposanten Beweise unserer staatlichen Exekutive geleiteten uns nun zu den vor dem Bahnhof wartenden Verkehrsbussen. Der Weg dauerte eine Weile und unsere Klasse, bzw. Reisegruppe vertrieb sich die Zeit mit munteren Gesängen. Die Akkustik des Bahnhofsgebäudes liess den erst bescheidenen Chor zu einem gewaltigen Spektakel wachsen und ich glaubte, in den Gesichtern manch eines Sicherheitsbeamten Erstaunen und Gänsehaut zu erkennen. Hier sei angemerkt, das keinerlei Möglichkeit zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse geboten wurde. Im Gegenteil: Die Befriedigung eben solcher wurde rigoros verboten! Unsere Reisegruppe verteilte sich auf die Verkehrsbusse und schnell stellten wir fest, das die Anzahl der Busse mit unserer Personenanzahl leicht überfordert war. Gegen die Verstopfung und Enge in den Bussen ist die Rush Hour in Tokyo oder New York ein Lacher. Als Cosmopolit weiß man um diese Vergleiche und den Grad ihrer Relevanz. Hier tat sich also das erste Defizit der zu begutachtenden Strukturen auf: Denn wie sollte z.B. sichergestellt werden, das in einer so eingepferchten Menge Jemand, der aufgrund der Enge und der knappen Luft einen Kreislaufkollaps erlitt schnell und effektiv medizinische Hilfe bekam? Wie hätte in diesem leichten Chaos der Busfahrer informiert werden sollen? “Frauen und Kinder zuerst!” mochte da so mache besorgte Aufsichtsperson im Geiste rufen.

Die Busse wurden nun von Polizeiwagen mit Blaulicht zum Stadion geleitet. Hätte man denken können. Tatsächlich wurden uns die Verkehrsstrecken rund um Braunschweig gezeigt und wir konnten uns vor Ort von der Qualität und Einzigartigkeit der hiesigen Autobahnen überzeugen. Diese muntere Vorführung von einer knappen Dreiviertelstunde wurde von uns mit viel Gesang und Applaus belohnt. Als wir am Stadion, also der Eventlocation ausstiegen konnten wir an den Gesichtern der Sicherheitsbeamten erkennen wie stolz sie auf den Erfolg ihrer kleinen Unterrichtsstunde waren. So beseelt wurde uns Einlass ins Stadion auf eine Art und Weise gewährt, die wieder ihresgleichen suchte: Mehr als ca. zweitausendfünfhundert Menschen wurden durch sage und schreibe einen ca. drei Meter breiten Eingang geleitet. Man stelle sich zum Vergleich vor wie jemand versucht, zwölf doppelstöckige Reisebusse durch eine Hofeinfahrt zu lotsen, die Anfang der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts als äußerst modern erschien. Auch dieser Punkt wurde auf die Defizitliste unserer Exkursion gesetzt und würde für ein weiteres Thema in der Nachbetrachtung am nächsten Schultag sorgen. Denn es war unschwer zu erkennen, das die Umstände für vielerlei Aggressionspotential sorgten und dies nur aufgrund der Beherrschtheit der Reisegruppe nicht wirklich zum Ausbruch kam. Aber wozu ist eine Exkursion sonst gut wenn man nicht über andere und sich selbst jede Menge lernen kann?

Braunschweiger Ground

Braunschweiger Ground

Im Stadion angekommen bot sich auch hier eine Defizitliste sondergleichen: Überfüllte Blöcke in die man nicht mehr hinein durfte und Ordner, die uns angesichts mangelnder Allgemeinbildung als Fischköppe titulierten. Der Hinweis darauf, das Fischköppe eine Bezeichnung für Bremer sei wurde mit einem ungläubigen Kopfschüttteln registriert und mit Sicherheit schnell wieder vergessen. “Macht Braunkohle dumm?” fragte einer unser geneigten Schüler. Allein die Antwort blieb die Aufsichtsperson schuldig. So suchten wir uns lauschige Plätzchen, betrachteten das Spiel und frönten dem Gesang, der unschuldigen Pöbelei und dem Doppelhalterhalten und Fahnenschwenken. Dieses Mal begnügten wir uns mit kleineren Fahnen, blieben doch die großen Schwenkfahnen bei einem anderen Teil der großen Reisegruppe. Hinter dem Tor vor unserer Kurve stand auf einem Baugerüst ein purpurn gekleidetes Männlein, das eine Fernsehkamera bediente. Dort trotze es stoisch Wind und Wetter und insgeheim wartete ich darauf, das ein kräftiger Volleyschuss das Männchen samt Kamera vom Gerüst fegte. Nicht aus Boshaftigkeit oder Schadenfreude. Vielmehr als Exempel für unsachgemäße Befestigung und nicht sicherheitsgemäße Verwahrung von Personal und Technik. Dem Männlein aber erblieb das zu statuierende Exempel erspart.

Das Spiel liess anfangs nichts Gutes erahnen, drängten doch die Braunschweiger ernsthaft in unsere Häfte, bemüht um ein Tor. Unsere Mannschaft wehrte sich tapfer und um die dreißigste Minute herum bugsierte der Braunschweiger Torwart eine Flanke artistisch ins eigene Tor. Somit stand es Eins zu Null für uns und der Reisegruppe wurde riesiger Jubel entlockt. Als Anekdote am Rande sei zu erwähnen, das Holger Stanislawski als Torschütze aufgeführt wurde, der aber meterweit entfernt vom Geschehen stand. In der Halbzeitpause liessen die Braunschweiger Gastgeber blaue und gelbe Ballons in den Himmel schweben. Das implizierte Gewinnspiel erschloss sich nur schwer und Falten zerfurchten meine Stirn ob der Befürchtung, das unsere amerikanischen Freunde diese großzügige Geste eventuell als eine ironische Spitze seitens der deutschen Bevölkerung aufnehmen konnten. Hatten doch schon einmal Luftballons diesbezüglich für Furore gesorgt. Ebenso kritisch beäugte ich das Verhalten der Braunschweiger Fans in der Kurve gegenüber: Dort wurde gezündelt, Bengalos angesteckt und sogar mit Feuerware aufs Spielfeld geschossen. Auch hier blieb mir die Intention verschlossen obwohl es gar lustig anzuschauen war. Trotz aller Sicherheitsbedenken setzte ich Bengalos auf meine Wunschliste, die ich meiner ehrenwerten Frau Mutter zu Weihnachten zu überreichen gedenke.”Kind” wird sie sagen “bist du dafür nicht etwas zu alt?” (Man bleibt immer Kind, egal wie alt man ist.) Aber zweifelsohne wird sie mir meinen Wunsch erfüllen. Zurück zur Exkursion: Die zweite Halbzeit brachte Personalwechsel und auch mehr Sicherheit in das Abwehrverhalten unserer Mannschaft, liess sogar den einen oder anderen Angriff aufkommen, der allerdings vor dem Braunschweiger Tor nicht zum erhofften Erfolg führte. Irgendwie aber brachten wir das Spiel über die Zeit und so konnten wir drei Punkte mit auf die Heimfahrt nehmen.

Unser Heinweg führte wieder in die Busse, die mir auf dem Rückweg voller noch als schon auf dem Hinweg erschienen. Zudem wurden an jede Tür zwei Sicherheitsbeamte postiert. Von den beiden neben uns – eine Frau und ein Mann – kann ich behaupten, das sie die strapaziöse Tour mit Humor und Gelassenheit nahmen, selbst über die Schmähgesänge schmunzelten. Das änderte aber nichts daran, das ich mich inmitten der tobenden Masse etwas unwohl fühlte und ein ums andere Stossgebet zum Himmel schickte, das die Tour zum Bahnhof bald vorbei sei und ich mich einfach nur mit einem Bier in den Zug setzen könne. Mehr noch als auf der Hinfahrt kamen erhebliche Zweifel in mir auf, das jemandem, der an irgendeiner Schwäche oder gar Phobie litt hier ernsthaft geholfen werden könnte. Endlich am Bahnhof angekommen machten wir uns auf dem Weg zum Gleis und auch dieser Weg war wieder gesäumt von staatlicher Exekutive. Zusätzlich warteten noch einige Zaungäste auf uns, die es sich nicht nehmen liessen rhetorisch wertvolle Gesänge vom Stapel zu lassen. Irgendetwas über Zecken drang an meine Ohren und ich schaute mich besorgt um: Zecken? Hier im Bahnhof? Ist es etwa um die Braunschweiger Hygiene so schlecht bestellt? Da könnte man ja in jedem Hotdog oder Burger gleich auch Kakerlaken vermuten. Nun gut, was will man von Menschen erwarten, die sich blaugelbe Schals und Shirts um den Körper drapieren? Aber den Hinweis auf die Zeckengefahr nahm ich dankbar auf. Schliesslich weiß jeder, der so wie ich mit Hunden großgeworden ist um die Problematik dieser kleinen hinterlistigen Dinger. Am Aufgang zum Gleis und auf dem Gleis selber entlud sich nun der Unmut der Braunschweiger über ihre Heimniederlage und den daraus resultierenden Tabellenplatz. Das eine oder andere unfreundliche Wort wechselte den Besitzer und so schaukelte sich die Stimmung hoch. Allerdings liessen unsere Sicherheitsbeamten keinen Zweifel daran aufkommen, das körperliche Auseinandersetzungen unerwünscht sind und so stieg man alsbald in den Sonderzug, der uns recht schnell und ohne große Verzögerung nach Hause brachte. Auf der Rückfahrt versuchten wir, die erfahrenen Lektionen zu diskutieren, stimmten noch fröhliche Lieder an wie es sich für eine Exkursion gehört, tranken Bier und genossen die Tatsache, das die Toiletten jetzt ohne Warterei frequentiert wurden konnten…