Der Tod | 01

der zug fuhr mitten durch die süddeutsche pampa mit nicht gerade hochwertigem tempo es war ein sonderzug wir hatten uns mit ein paar hundert leuten aufgemacht das am weitesten abgelegene auswärtsspiel unseres lieblingsvereins nahe der österreichischen grenze zu besuchen geschlafen hatte ich schon lang nicht mehr das tat auch selbst auf dem rückweg auf dem wir gerade waren nicht not denn alkohol koks und gesprächsstoff gab es genug um nicht schlafen zu müssen ich hatte um mitternacht in meinen sechsunddreißigsten geburtstag hineingefeiert und war stunden danach nicht mehr wirklich in hochstimmung denn trotz aller anregenden dinge um mich herum wurde ich es nach knapp vierzig stunden fußballfanaktion langsam satt wollte nur noch nach hause da klingelt mein mobiltelefon es war mein bruder der mich anrief was mich erstaunte da es eine gerade für ihn recht ungewöhnliche uhrzeit war um mir zum geburtstag zu gratulieren selbst wenn es nachmittags oder früher abend gewesen wäre hätte es mich verwundert da ich jemand bin der bei seinem bruder nicht gerade ganz oben auf der liste steht wenn es um dinge dieser art geht aber das ist auch nicht weiter wild denn so ist es eben das man sich trotz gleicher herkunft anders entwickelt und um ehrlich zu sein ist mein bruder der mein zweitältester ist ich habe zwei brüder und eine schwester bin der jüngste der familie jemand den ich wenn ich auf offener straße jemanden um feuer bitten oder um die uhrzeit fragen müsste einfach übersehen würde ich würde ihn gar nicht sehen so ist das wohl aber nicht weiter wild

papa ist tot stolperte es mir aus dem telefon entgegen und am liebsten hätte ich direkt aufgelegt stattdessen blieb ich stumm und ließ weitere details über mich herfallen klärte im gegenzug darüber auf wo ich gerade bin und das ich mich melden würde sobald ich zurück in hamburg sei beendete die verbindung versuchte das gerade gehörte zu fassen was mir nicht gelang um mich herum war alles nur schwarz schwarz so abgrundtief schwarz dass mir klaus kinski einfiel wie er sagte das zeit ein abgrund tausend nächte tief ist und mir klar wurde das ich gerade in genau dem abgrund hockte den ich als kind immer sah wenn ich versuchte mir vorzustellen was nach dem tod meiner eltern wäre sein könnte sein müsste da sah ich als kind immer nur tiefschwarze nacht in der ich stand nichts sehen nichts fühlen konnte in der stand ich genau jetzt ohnmächtig irgendetwas zu empfinden zu sagen oder zu denken ich sah einfach nur diese tiefschwarze nacht aus der ich einen ausweg suchte und langsam holten die feiernden redenden menschen um mich herum das leben zurück in dem ich mich befand und ich nahm daran teil ohne teilzunehmen ohne jemanden an mir teilnehmen zu lassen

Hans-Joachim Schulz

zuletzt gesehen hatte ich meinen vater auf dem vierzigsten geburtstag eben jenes bruders der mir jetzt erklärte das er tot sei mein vater das war zweieinhalb monate her und auf der feier saß ich lang mit ihm von krankheit gezeichnet aber dennoch recht ausgeglichen und wir redeten es mag kein großes gespräch gewesen sein aber wie er da so neben mir saß klein dünn geworden die durch die chemotherapie verlorenen haare mit einem schicken anglerhut kaschiert spürte ich meine liebe und spürte genauso schon den hauch der verlorenen und vergebenen möglichkeiten unseres gemeinsamen lebens oft habe ich mir gedacht man müsste mit seinen eltern oder in diesem fall mit seinem vater gespräche führen wie man sie aus diesen filmischen dramen kennt da werden erinnerungen hervorgekramt reflektiert verständnis erbracht für die fehler und bösen träume der vergangenheit am ende haben sie sich alle lieb diese hochbezahlten gut ausgebildeten gefühlsdarsteller oft hatte ich mir so etwas überlegt vielleicht sogar gewünscht aber mich nie getraut umzusetzen und an jenem abend saßen wir also auf dieser feier unterhielten uns über dieses jenes genossen glaube ich stillschweigend das gefühl so in aller ruhe sitzen zu können und jetzt war er tot und verzweifelt wünschte ich mir diesen letzten abend zurück um vergebene und vergessene möglichkeiten der zusammenkunft und des verständnisses einzuholen und ihm etwas zu schenken dass ich zeit meines lebens nicht hatte ausdrücken können meine liebe mein respekt prallten an der unheimlichen vorstellung einer toten hülle ab die einmal mein vater gewesen sein muss in der zeit vor diesem letzten treffen hatte ich mich vor telefonaten und besuchen herumgedrückt den grund dafür kenne ich nicht es war mir einfach unmöglich mein eigenes leben war schon unmöglich genug nicht einfach zu meistern und ich habe die zusätzliche belastung durch schmerz trauer oder was auch immer gescheut für den prozess der annäherung war ich noch nicht weit genug und so wurde der prozess der noch gar nicht begonnen hatte durch den tod mehr als im keim erstickt ein ungeborenes wurde abgetrieben eine fehlgeburt in herz und kopf

zurück in dem trubelzug suchte ich mich selbst inmitten der feiernden masse ein möglichst unbeschadetes zurück kommen nach hamburg ohne haltung und kontrolle zu verlieren die ankunft das zusammenpacken und verabschieden war schnell gemacht und zuhause angekommen saß ich in der küche rauchte dachte fühlte suchte in mir etwas das den ausweg aus der dunkelheit ermöglichte die aber nur durch anrufe voll mit geburtstagswünschen durch mein funktionieren am telefon unterbrochen wurde weinen konnte ich nicht selbst als sie aus london anrief ich ihr sagte was passiert sei konnte ich nicht ich spürte nur wie mir etwas die kehle und die tränen abschnürte nicht raus wollte aus meinem herzen kurz vor dem explodieren drückte etwas in mir den deckel drauf und erst als ich meinen bruder erreichte floss endlich eine träne um die andere weil ich meinen geburtstag so gern gegen weitere tage mit meinem vater eingetauscht hätte aber mein wahnsinn ging weiter ohne dass ich ihn aufhalten konnte ihm entfliehen oder stark genug entgegenzutreten vermochte stattdessen lud ich abends ein paar freunde zum italiener ein feierte meinen geburtstag den es nicht mehr gab in mir suchte nach auswegen erleichterung und trost wo es nichts davon geben konnte und durfte