Schmerzende Augenblicke

Aachen oder zu groß ist manchmal der Schmerz als das man ihm ins Auge blicken könnte

Ruhe bitte!

Ruhe bitte!

Es ist Sonntag, ich sitze vor meinem Notebook, starre auf die Tasten und schaffe es nicht, aus den einzelnen Buchstaben Worte zu formulieren, die meine Gedanken und Gefühle beschreiben könnten. Und das Schlimme ist, das mein Therapeut im Urlaub ist. Ski fahren in St. Moritz. Man gönnt sich ja sonst nichts, würde Gunther Strack sagen, könnte er uns mit seinen Aquavit getränkten Weisheiten noch beglücken.

Das Jahr neigt sich seinem Ende zu, Weihnachten steht vor der Tür und die ersten Fragen nach den Silvesterplänen prasseln auf mich ein. In den Werbepausen wird auf Toilette gegangen, Kaffee oder andere Getränke geholt, ein Brot geschmiert oder kurz eine SMS verschickt, ein schnelles Telefonat geführt. Warm und kuschelig ist es zu dieser Jahreszeit eigentlich nur im Bett, das aber ? wenn man allein drin liegt ? auch nur lauwarm wird. Harald Schmidt tröstet mit Sarkasmus und feinen Spitzen über das aktuelle Geschehen hinweg und Al lässt sich immer noch von Tim vorführen. Wenigstens auf das Programm ist Verlass und wenn es nervt, schaltet man um oder aus, liest ein Buch. So einfach geht das. Das muss man sich mal vorstellen.

Freitagabend war ich irgendwie noch frohen Mutes, traf mich mit Silversurfer, den AFClern und den Arschrockern – Astra Schwabe was back in Town – im Tipple Inn. Ein paar Biere und aufmunternde Worte taten ein übriges, um sich hoffnungsvoll mit Umweg über das Miller ins Stadion zu begeben: Heute, heute endlich werden drei Punkte gegen den Abstieg geholt. Heute, heute muss es einfach mal klappen. So rollten wir wieder Tapeten aus, steckten Stöcker in die Doppelhalter und zogen die Schwenkfahnen auf. Aber allein nach diesem 1:4 muss sich Fan, der / die in der Lage ist kritisch zu hinterfragen Gedanken über den Sinn des Ganzen machen: Warum ein jedes Mal dieses Theater, diese Mühe und nicht zuletzt das Stehen, Klatschen, Singen, Fahnenschwenken, Zaunklettern und Tapeten hoch halten bei Minustemperaturen? Es ist mehr als die Liebe zum Spiel. Es ist die Liebe zum Verein, zum Stadtteil, zur gemeinsam durchlebten Vergangenheit, zu den Höhen, Tiefen, den Emotionen, die da von der Gänsehaut, vom Thrill bis hin zu Trauer reichen. So etwas lässt man so schnell nicht mehr los. Wie in einer Ehe, einer Beziehung, die von all dem beherrscht wird, hält man hier die Treue, kämpft und versucht immer einen Neuanfang, übt sich jeden Morgen mit dem Aufwachen in der Hoffnung, das alles anders und besser wird.
Dennoch, als ich aus der Halbzeitpause kam, es “nur” 0:1 stand wollte ich noch eine Wurst essen bevor es weitergeht. Die zweite Halbzeit lief aber schon und alsbald auch ein paar meiner Tränen: Ich erhielt gerade meine Currywurst als das 0:2 verkündet wurde und schon kullerten zwei dicke Tränen in die Currysoße. Kaum hatte ich das letzte Stück Wurst vertilgt wurde das 0:3 durchgegeben. Mich durchzog ein eisiges Gefühl, das sogar die Wurst in meinem Bauch zu tonnenschweren Eiswürfeln gefrieren ließ. Und ich rannte fast zurück in die Südkurve, guckte ungläubig in die Reihen, auf den Rasen und machte das, was die Hoffnung hin und wieder macht, denn auch die Hoffnung geht bei Ohnmacht und Minusgraden schon mal eher! Ich konnte und wollte nicht mehr. Bloß raus hier. Schnell irgendwo hin, wo es warm ist und das Elend keinen Zutritt hat.

Eisige Kälte

Eisige Kälte

So begab ich mich ins Miller. Auf dem Weg dorthin, begleitet von einer ebenso flüchtenden Masse traf ich die Arschrocker, die wie ich geschockt das Millerntor verlassen hatten. Wir verabredeten uns für später im Radau und so wartete ich im Miller auf den Rest der Aktion Süd. Bald trafen der Silversurfer, St. Pauli Boy und Modefan ein. Wie auch ich gingen sie früher und waren einfach nur frustriert. Ohne das als Rechtfertigung gelten lassen zu wollen haben wir zum ersten Mal ein Heimspiel vor dem Abpfiff verlassen. Im Miller bekamen wir über den Nebentisch noch das 0:4 und 1:4 mit und alsbald war der Laden gerammelt voll. Silversurfer und ich verliessen das Miller gen Fanladen. Dort trafen sukzessive die Leidensgenossen Orsen, Netzmeister, Superfly, Saschex, Netzmeister, die betörend duftende Rispi inklusive Mitbewohnerin sowie diverse andere ein und die Stimmung schlug wie auf einer Beerdigung allmählich von Trauer in humorgeschwängerte Hysterie um. Ein Bier gab das andere genauso wie sich die Sätze überschlugen und alsbald fand ich mich im Radau wieder, trank weitere Biere, stieg irgendwann auf einen Hocker und animierte das anwesende Publikum zum Anstimmen von Aux Armes. Allein den Text änderte ich um in ?Oh armes, oh armes, oh armes St. Pauli, wir gewinnen nie?. Humor ist eben wenn man trotzdem lacht.

Nächster Halt auf der irrsinnigen Fahrt durch die Nacht war der Beatclub, der auch vorläufig Endstation sein sollte. Wir nahmen fürchterliche Rache am Kicker und den Getränkevorräten, zollten Tribut den nicht mehr vorhandenen Tränen und hängten mitunter anderen, früheren Zeiten nach. In meinen Augen ist der Abstieg eine klare Sache und wenn jetzt auch noch Preußen Münster aus der Regionalliga absteigt kann ich für Zurückhaltung nicht mehr garantieren…

Manchmal ist der Schmerz einfach zu groß als das man ihm in die Augen schauen könnte. Was also kann ich noch sagen außer das es irgendwie okay ist, denn es tut gleichmäßig weh. Danke Herbert.